Fernsehkritik: „Haarfetisch – wenn Haare die Lust wecken“ aus der Reihe „Exklusiv – die Reportage“ (RTL2)
Frauen, bei denen ihr Wohl und Wehe einzig an ihren Haare hängt und die es fertig bringen, sich selbst einzig über ihren Kopfschmuck als Persönlichkeit zu definieren, mag man vor der Dokumentation noch für einen schlechten Scherz gehalten haben. Während die moderne Frau im Intimbereich die Radikallösung „cut to fuck“ bevorzugt, herrscht obenrum die Ansicht „long to love“. Haare zeigen bei Männern meist ihr Alter (anhand der ausgeprägten Geheimratsecken), ihre Vertrauenswürdigkeit (anhand der Graumelierung) und ihren generellen Pflegezustand an (wäscht sich dieser Mann überhaupt regelmäßig?). Bei Frauen stehen die Haare für Weiblichkeit, Gesundheit und aktuellen Stimmungszustand. Wenn Frauen ihren Bad-Hair-Day haben, ist ihr Sinn für Selbstironie spürbar eingeschränkt.
Profan betrachtet, bieten Haare einen wirksamen Schutz vor Kälte. Mehr nicht. Aber ob sich die Natur hat vorstellen können, dass ein Mann alleine vom Haareschneiden sexuell erregt werden kann? Michael (49, Frührentner) gehört zu dieser seltenen Spezies. Er sucht einen passenden weiblichen Gegenpart, wo er sie abends mal zum Haareschneiden und nicht zum Kuscheln auffordern dürfe. Der Sechser im Lotto wäre, wenn man sich sogar gegenseitig die Haare schnitte. Folglich ist die Friseurin seine beste Freundin. Als sie andeutet, eine Kundin mit Haarschneidezwang zu kennen, ist unser Michael natürlich gleich außer sich vor Begeisterung. Sein etwas zur Schläfrigkeit neigender Charakter lässt es einem jedoch kaum merken. Er trifft sich mit der voller Lebensenergie auftretenden Russin Tatjana im verschneiten Park, was Michael sprachlos macht und uns für ihn hoffen lässt, dass sich in diesem Fall Gegensätze anziehen mögen. Oder sollte man besser sagen, dass sich die gegensätzlichen Charaktere beim zärtlichen Spitzenschneiden die Liebe füreinander entdecken? Leider, leider ist Tatjana jedoch sichtlich schockiert als ihr Michael seinen Fetisch verrät. Sie schlägt vor, einen Wodka einzunehmen. „Ich verstehe dich zwar nicht, aber wir können ja auf jeden Fall darauf trinken.“ Michael schluckt seinen Frust und seine Traurigkeit mit dem hochprozentigen Inhalt des halbvollen Wasserglases hinunter. Am Ende sitzen sie übrigens Arm in Arm zusammen und finden sich gegenseitig toll, was allerdings derart unglaubwürdig inszeniert ist, dass sich die Autorin der Dokumentation was schämen sollte.
Bei Anett dreht sich fast alles um ihre meterlange Kopfpracht mit Spliss, für die sie ständig Lobe bekäme. Alleine für Waschen, Fönen, Stylen geht der halbe Tag drauf … ein wenig praktikabler darf’s dann doch schon sein, oder? Sie arbeitet als Haarmodel.
Im völligen Kontrast zu ihr steht Jenny, die eine Glatze bevorzugt. Was den alten Begrüßungskalauer erzwingt: Chemotherapie oder Friseur? Für ihren Job muss sie Perücke tragen, sodass ihre Glatze praktisch ein Zeichen dafür ist, dass sie gerade privat unterwegs ist. Wir sehen sie dann bei der Neuerwerbung eines langmähnigen Haarteils, eine Art Berufskleidung also. Immer in Begleitung ihrer Freundin, die der Glatze nicht so viel abgewinnen kann. „Ich würd mir niemals für einen Mann oder so meine Haare wieder wachsen lassen.“
Als der Abspann läuft sinniere ich darüber, über welchen anderen Fetisch ich von RTL2 dringend mal aufgeklärt werden würde: Plushophilie (Plüschtier-Liebe), Pornophilie (Zwang, ständig Pornofilme zu schauen) und RTL2-Dokuphilie (Zwang, sich unter seinem Niveau unterhalten zu lassen).